Rätsel der Kanaren
Felsbilder der Ureinwohner
Ein Gastbeitrag von Harald Braem
Die Kanarischen Inseln sind ein wahres Lexikon aus Stein. Tausende von Gravuren – sogenannte Petroglyphen – bedecken die Felsen. Botschaften aus der Zeit der Ureinwohner, die noch bis ins 15. Jahrhundert hinein in neolithischen Gruppen als Fischer, Sammler und Hirten siedelten. Bis heute kennt niemand die Bedeutung dieser Bildzeichen. Die Altkanarier lebten in mündlicher Tradition. Viele Worte der alten Sprache sind noch in Namen von Personen, Orten, Bergen, Quellen, Pflanzen, Werkzeugen und vielem mehr überliefert. Ebenso wie ein Zahlensystem, das sogar die Null kannte, sowie kulturell-religiöse Begriffe.
Das Geheimnis der Felsbilder wird damit allerdings nicht gelüftet. Es existieren verschiedene Deutungsversuche: Handelt es sich um Wasserkulte, Wegmarkierungen, Landkarten, Stammessymbole oder astronomisch-kalendarische Ausrichtungen? Manche weisen auf die Verwandtschaft der Formensprache zu Nordafrika hin, was nach neuen DNA-Untersuchungen in die Irre führt: Dort kommt die urkanarische Gen-Sequenz U6b1 nicht vor. Womit wir die lange als Mainstream geltende Inselberber-Theorie ad acta legen können. Andere auf nahezu identische Felsbildstationen wie Pontevedra in Galizien, Gavrinis in der Bretagne und Irland.
Verschiedene Petroglyphen je nach Insel
Die Bildsprache auf den Kanaren ist nicht einheitlich, was auf unterschiedliche Zeiten und Besiedlungsschübe hinweist. Während im Gebiet der Mahos auf Lanzarote und Fuerteventura lineare Ritzgravuren und buchstabenähnliche Zeichen vorherrschen, gibt es auf Gran Canaria eine Fülle von figürlichen Darstellungen sowie geometrische Malerei.
Auf La Palma überwiegen Spiralen, konzentrische Kreise, verschlungene Linien und sternförmige Gebilde. Auf El Hierro tauchen in El Julan in Küstennähe alle Formen auf engstem Raum auf. Wobei die Frage offen bleibt, ob es sich bei den in senkrechten Zeilen verlaufenden Runen, die meist mit einem Ankerzeichen enden, um eine Vorberberschrift oder um altiberische Wortzeichen handelt, wie sie der Franzose Professor Christophe Galland in der Region um Cadiz nachwies.
Das Dekor der Keramik unterscheidet sich – speziell auf La Palma – deutlich von allen bisher bekannten Kulturkreisen. Metallverarbeitung war den kanarischen Ureinwohnern unbekannt und auch mangels Vorkommen nicht realisierbar. Wären sie aus der Welt des Metalls zu den Inseln gelangt, hätten sie mit Sicherheit Waffen und Werkzeuge mitgebracht. Bisher ist nichts dergleichen gefunden worden.
Woher kamen die Ureinwohner der Kanaren?
Die Frage, von wo die Ureinwohner aufbrachen, bleibt ungeklärt. Für weitere aussagekräftige DNA-Untersuchungen im Mittelmeerraum beziehungsweise an der europäischen Atlantikküste fehlen mangels öffentlichen Interesses die Motivation, Finanzmittel sowie eine junge Generation neugieriger Forscherinnen und Forscher.
Das Geheimnis scheint sich selbst zu schützen. Wenn wir nicht ins Unbekannte hinein fantasieren wollen, bleibt uns bis dato nur die Erkenntnis: Die Ureinwohner haben uns bewusst Signale und Botschaften hinterlassen, vielleicht sogar eine noch unbekannte Schrift. Aber wir sind nicht in der Lage, sie zu lesen.
Uns fehlt der Schlüssel zur Dekodierung, ein Stein von Rosette. Glücklicherweise sind die kanarischen Petroglyphen inzwischen zum Unesco-Welterbe erklärt worden. Denn sie besitzen so viele spezifische Eigenschaften: neben spielerisch verschlungenen Gebilden auch deutliche Darstellungen von Booten, Walen, Riesenechsen, Sternen und sogar tanzende oder betende Menschen!
Die Felsritzungen sind geschützt
Die neue Wertschätzung zeigt erste Wirkung: Es wurden Wege angelegt, Felsbilder durch Umzäunung gesichert, mehrsprachige Infotafeln aufgestellt, Dokumentations- und Interpretationszentren eröffnet. Was aber nichts am Bestandsschwund ändert. Die Verwitterung durch Sonne und Regen schreitet rapide voran, besonders deutlich am Roque Teneguia auf La Palma. Aber auch der Vulkanausbruch des Tajogaite 2021 auf La Pama und die damit verbundenen Erdbeben haben deutliche Schäden angerichtet – sichtbar zum Beispiel in La Zarzita.
Hinzu kommt noch Zerstörung durch Vandalismus. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, um das Welterbe zu retten. Hoffnung gibt, dass immer noch neue, bisher unbekannte Felsbilder entdeckt werden, vor kurzem am Bejenao und in unwegsamen Barrancos an der Küste von Puntagorda. Die Forschung geht weiter.
Harald Braem, La Palma 2023
Prof. Harald Braem lebt auf La Palma und in Ingelheim am Rhein. Er war lange Zeit Institutsleiter und Kurator eines Welterbemuseums. Seit 1984 betreibt er Feldforschung auf den Kanarischen Inseln. Außer Sachbüchern („Auf den Spuren der Ureinwohner – Ein archäologischer Reiseführer“, Zech Verlag) schreibt er historische Romane (u. a. „Tanausú. König der Guanchen“, „Gilgamesch“) und ist an Filmdokus beteiligt (u. a. „Terra X“).
Titelfoto des Beitrags: Harald Braem.
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